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September 2023
Navasa Rocchetta Alta di Bosconero

Gesundheitliche Schicksalsschläge als Auslöser für die Transformation des Geistes sind in den vielfältigsten Beispielen dokumentiert. Das einschneidende Erlebnis als Zäsur der denkerischen Grundausrichtung gibt es so lange wie den Menschen selbst. Es ist die Erschütterung des “Sicher-Geglaubten”, die Erosion des Selbstverständlichen, die die Konzeption des Geistes nachhaltig verändert. Vorgezeichnete Pläne und Ziele, die uns als Wegweiser dienten, verschwinden in einer endlosen Dunkelheit. Die wunderbarsten Farbtöne des Lebens werden plötzlich von einer alles vereinnahmenden Schwärze überdeckt. Das rote Feuer der Begeisterung erlischt von einer Minute auf die andere. Die blaue Farbe des Ideenozeans versinkt in einem großen schwarzen Loch. Der gelbe Sonnenball, der so oft als warme Quelle der Energie diente, verschwindet hinter überdeckenden Wolken. Die grüne Natur, die nach langen Tagen in Fels und Eis das Leben in die Reichweite der Sinne zurückbrachte, verfällt zu verdorrenem Nichts. Man versucht die Konturen, Linien, Formen und Farben der Zukunft, die man in zahlreichen Stunden der Kontemplation gezeichnet hat, auszumachen, aber riesige schwarze Flecken überdecken die Zusammenhänge. Der Betroffene steht vor der Entscheidung, ob er sich der Passivität der Hoffnung, dass der alte Zustand wiederhergestellt wird, ergibt, oder ob der Stift auf einem leeren Blatt Papier neu angesetzt wird.

Zu Beginn des Februars im Jahr 2024 wurde der Schmerz zu meinem Begleiter. Nach einem Skiunfall und der anschließend notwendigen operativen Fixation des Mittelhandknochens wurde CRPS diagnostiziert. Obwohl diese Krankheit in der allgemeinen Gegenwart nicht besonders bekannt zu sein scheint, tritt sie nach chirurgischen Eingriffen an Hand und Fuß mit einer beträchtlichen Häufigkeit auf. Die Überreaktion des Körpers führte zu stechenden Schmerzen bei nahezu jeder Bewegung und eine völlige Gefühllosigkeit und Unbeweglichkeit der Extremität. Verstärkter Haarwuchs und eine ungewöhnliche rosa-rötliche Färbung der Handinnenfläche konnten als weitere Symptome beobachtet werden. Ab diesem Zeitpunkt musste das Leben gänzlich nach den Vorgaben des Schmerzes ausgerichtet werden. Die Auswahl der Kleidungsstücke war stark eingeschränkt, da das Zusammenspiel der starken Schwellung mit dem Druckschmerz ein Überziehen enger Ärmel unmöglich machte. Die alten Maßstäbe der Zeit verloren an Gültigkeit. Um ein geschlossenes Zimmer zu betreten, musste zunächst der mit links getragene Gegenstand abgelegt werden, denn ein Drücken der Türklinke mit der betroffenen Hand war nicht mehr möglich. Alle Strecken mussten mit dem Bus zurückgelegt werden. In der Nacht war nur die Schlafposition auf der linken Schulter erträglich. Oft war das morgendliche Aufwachen gefolgt von einem Kontrollverlust über den eigenen Körper und die Befreiung der Glieder aus der Starre der Nachtruhe führte zu einem kreischenden Aufschrei des Schmerzes. Greifende Bewegungen, die prinzipiell unter der Schwelle der Schmerztoleranz gelegen wären, wurden durch die Unbeweglichkeit und Gefühllosigkeit der Finger verhindert. Andere Körperteile gewannen an Bedeutung. Beine und Ellenbogen sind bestens für die Fixierung von Gegenständen geeignet, um sie mit einer Hand zu bearbeiten. Vorsicht war das Prinzip erster Ordnung. Jeder Aufschrei, der wie ein langer Orgelton in den Bögen des Gehirns nachhallte, musste vermieden werden. Langsames, zeitaufwendiges Herantasten war das Gebot der Stunde. Welche Bewegungen erduldet der Körper mit moderater Echauffierung und welche werden mit Schreien der Brüskierung zurückgewiesen?

Die Nordwand der Rocchetta Alta di Bosconero ist gleichermaßen eine typische sowie spezielle Dolomitenwand. Die chaotische Verteilung grauer und gelber Wandabschnitte ist jedem, der seine Spuren in dieser Umgebung hinterlässt, geläufig. Charakteristisch sind auch die geradlinigen Muster, die durch Bänder, Risse und Verschneidungen in die Wand gezeichnet werden. Die Steilheit der Wand ist jedoch selbst für die Verhältnisse der umliegenden Gemäuer ungewöhnlich. Es mutet an, als ob einst eine riesige Hand an der damals gleichmäßig geformten Pyramide angepackt und die Hälfte des Berges herausgerissen hätte. Im unteren Teil verließen dem Riesen scheinbar die Kräfte, da hier einige kompaktere Wandbereiche aus der senkrechten Falllinie herausragen und in etwas weniger bedrohlicher Steilheit in die Latschenhänge des Tales münden. Die Dichte an kleineren Dächern, die sich über die komplette Wand verteilen, ist ebenfalls erstaunlich. Für einstige Aspiranten mussten sie Hindernisse darstellen, die die Möglichkeiten potentieller Durchsteigungsrouten stark einschränkten.

rocchettaAltaDihedral

Die Bosconero-Gruppe mit ihrer 2404 Meter hohen Rocchetta Alta steht im Schatten der berühmten Nachbarn. Im Westen schiebt sich der massige Riegel der Civetta in das Blickfeld. Im Süden verdeckt die sonnige Schiara die Sicht auf die venezianische Ebene, die in so starkem Gegensatz zu den steilen Gipfeln der Dolomiten steht. Im Norden rückt der Antelao in scheinbar greifbare Nähe. Auf dem Weg vom Val di Zoldo durch die märchenhaften Wälder verliert sich der Geist in Gedanken, um bald vom Anblick der bedrohlichen Wände in den Zustand der Wachsamkeit zurückgeholt zu werden. Im Vordergrund der Felsmassen wirkt die idyllisch gelegene kleine Rifugio di Casera di Bosconero wie ein Hexenhäuschen. Das monotone Rauschen des Baches wird gelegentlich von den Schreien der Esel übertönt. Wie eine riesige Theaterkulisse umringen die Gipfel in konkaver Form die von Bäumen umringte Lichtung der Alm. Von den Rängen ertönt von Zeit zu Zeit das Krachen abbrechender Felsen.

rocchettaAltaView

Wenn nur eine Route als “klassisch” tituliert werden dürfte, dann müsste die Wahl auf die Navasa-Route an der Rocchetta Alta fallen. Was wir heutzutage gemeinhin als “klassisch” bezeichnen, war in Zeiten der Erstbegehung der logische Ansatz für die Durchsteigung einer Wand. Die zusammenhängende Linie vom Einstieg bis zum Gipfel wird von der Struktur der Wand vorgeschlagen und von der Vision des Bergsteigers vollendet. Die Ungewissheit bleibt und bildet den Grundstein des Abenteuers. Letztendlich kann die Route nur realisiert werden, wenn die zuvor visionierte Linie ausreichend Möglichkeiten für die Fortbewegung bietet. Dabei müssen heute wie damals immer zwei Komponenten beachtet werden. Zunächst muss der Fels die natürlichen Voraussetzungen für die durchgängige Fortbewegungslinie bieten. Es ist gerade diese notwendige Bedingung, die zur heutigen Zeit durch die Nutzung des Bohrhakens so oft zerstört wird. Damit stirbt der “klassische” Ansatz. Diese erste Komponente ist notwendig, aber keineswegs hinreichend. Nur wenn während der Ersteigung eine Sicherungslinie aufgebaut werden kann, die den Anforderungen der Protagonisten als risikominderndes Element genügt, sind die Voraussetzungen für eine Durchsteigung in vollem Umfang gegeben.

Das Diktat des Schmerzes regelt von nun an die Verhaltensweisen. Tagtäglich werden die Paragraphen des Vertrages durch unmittelbare und erbarmungslose Bestrafung gelehrt. Jede Übertretung eines Verbots wird mit tief eindringenden Stichen abgegolten. Je nach Art der Übertretung variiert der Schmerz in Dauer und Intensität. Nur durch die Erfahrung offenbaren sich dem Unterworfenen die Regeln. Welche Bewegungen sind erlaubt und welche sind verboten? Welche Handlungen werden toleriert und welche werden bestraft? Das Diktat des Schmerzes präsentiert sich nicht als aufgeschlagenes Buch, es kann nur durch die tägliche Erfahrung, durch das Erkennen der Mustern und Konstanten durchdrungen werden. Das seitliche Ziehen des Hebels führt zu einem Aufheulen des Schmerzes. Das frontale Drücken des Knopfes wird reaktionslos toleriert. Das Heben eines bestimmten Gegenstandes darf unter Erduldung moderater Stiche erfolgen. Die Informationen werden automatisch in der Datenbank des Gehirns abgespeichert und vor den Handlungen der Zukunft abgerufen. Die Freiheit der Vergangenheit weicht den Zwängen der Gegenwart.

Der klassische Durchsteiger einer Wand muss bei seiner langsamen Annäherung bereits vorher innehalten und die Linie aus guter Entfernung erkunden. Am Einstieg der Rocchetta Alta stürzen die gelben, sperrenden Dächer in das Blickfeld des Betrachters, die senkrechten Strukturen der Fortbewegungs- und Sicherungslinie jedoch fallen bereits aus der Perspektive. Manchmal bedingen die geographischen Gegebenheiten auch die Ersteigung eines gegenüberliegenden Felsens, um die richtigen Einblicke zu erhalten. Nur so kann man die Abfolge der grauen, kompakten Wandbereiche im zentralen Teil der Nordwand, die geneigte Einstiegsrampe, einige gelbe Verschneidungen und die Fluchtmöglichkeit nach circa drei Viertel der gesamten Wandhöhe erkennen. Das ironische Phänomen, dass nicht die Erstbegeher, sondern der deutliche Großteil der wiederholenden Seilschaften von dieser “Fluchtmöglichkeit” Gebrauch machten, kann auch in anderen Routen beobachtet werden. Dieses Phänomen reicht dabei soweit, dass in der Gedankensphäre potentieller oder tatsächlicher Wiederholer die Durchsteigung bis zu dieser Stelle eine Durchsteigung der gesamten Route bedeutet. In den meisten Fällen wird auf die Erreichung des Gipfels gänzlich verzichtet.

rocchettaAltaApproach

Die Zeiten des heroischen Alpinismus der Zwischenkriegsjahre überstand die Nordwand der Rocchetta Alta ohne erfolgreichen Durchsteigungsversuch. Dies kann in Teilen, aber sicherlich nicht endgültig, mit der Unbekanntheit und dem Schattendasein dieser Untergruppe erklärt werden. Die Bühne für große Stücke waren beispielsweise die Nordwände der Drei Zinnen oder die Südwand der Marmolada. Abgesehen davon musste die unnahbare Wirkung der Steilheit, Dunkelheit und Zerrissenheit jeden potentiellen Durchsteigungsversuch bereits im Keim erstickt haben. Erst im Jahre 1964, in einer Zeit, in der der klassische Ansatz bereits vor einer Bewährungsprobe stand, glückte die Durchsteigung einer Seilschaft unter venezianischer Führung. Die Bewährungsprobe entstand durch den Einsatz gebohrter Haken, die zumindest theoretisch jede Unterbrechung der Fortbewegungs- oder Sicherungslinie überbrücken konnte. Im selben Jahr benutzte Armando Aste in den silbergrauen Platten der Marmolada Bohrhaken, um seinen “Via dell Ideale” zu realisieren. 1967 wurde in der Südverschneidung des Grundübelhorns eine unmögliche Plattenstelle nach gleichem Prinzip möglich gemacht. Bereits ein Jahr zuvor wählten vier Sachsen in der Nordwand der Großen Zinne “die Linie des fallenden Tropfens”. Nicht der Berg gab die Route vor, sondern der Mensch. Die Erstbegeher der Nordwand der Rocchetta Alta wirkten durch ihren Stil als Gegenpol dieser Bewegungen. Die Möglichkeit des Scheiterns, darf als Privileg, nicht als Übel verstanden werden.

Wo sich früher die gezeichneten Linien durch die Farbenpracht des Lebens windeten, hat der Unfall riesige schwarze Flecken hinterlassen. Keine Kontur ist mehr zu erkennen, jede Richtung ist verschwommen. Die Lebenslinien können nicht mehr weiterverfolgt werden. Es handelt sich um eben jene Bahnen, von denen man über all die Jahre dachte, dass sie eines Tages an einem ultimativen letzten Zielpunkt zusammentreffen würden. Obwohl man nie in der Lage war zu definieren, welche Form oder Gestalt dieses Lebensziel denn annehmen sollte, verfolgte man es mit einer derartigen Vehemenz, dass ein Blick nach rechts oder links kaum möglich war. Tatsächlich war die Fixiertheit meist so groß, dass die Farbenvielfalt des Lebens nur selten wahrgenommen wurde. Ironischerweise verleiht allein der Glaube, dass das große Ziel tatsächlich existiert, auch die Zuversicht, dass man sich auf dem richtigen Weg befindet. Neue Linien, Abzweigungen oder Pausen vermindern die Chancen der Ankunft und sind unattraktiv. Nur in seltenen Momenten, wenn beispielsweise die Erschöpfung ein Vorranschreiten unmöglich macht und zum Innehalten zwingt, wird die Nicht-Existenz des großen Endpunktes bewusst.

Tatsächlich wird diese Jagd von sämtlichen Ausprägungen des Egoismus begleitet. Im Mittelpunkt steht das Vorwärtskommen und äußere Einflüsse müssen stets der Evaluierung ihrer Förderlichkeit standhalten. Der Fokus liegt immer auf dem “Ich”, niemals auf dem “Wir” oder “Ihr”. Empathie wird verlernt. Dem Handeln nach einer Maxime, die allgemeines Gesetz werden könnte, fehlt es an jeglicher Effizienz für den persönlichen Fortschritt. Der Verfall des kategorischen Imperativs frisst sich in alle Bereiche des Lebens. Die hilflose Mutter, die den Kinderwagen nicht über die Treppen tragen kann, wird übersehen. Die Wünsche des Nächsten werden überhört. Die Natur wird mit Füßen getreten. Für die Ersparnis von kostbaren Minuten muss jedes Mittel genutzt werden.

In Zeiten der Krise erfährt der Leidende, hoffentlich, den Wert der Selbstlosigkeit. Da gibt es eine Kraft im Menschen, die eben nicht auf das “Ich” fokussiert ist, sondern auf den Mitmenschen. Nicht die großen Dinge sind entscheidend, sondern das offene Ohr, die helfende Hand und ein Bewusstsein für die Auswirkungen des eigenen Handelns. Wer Freiheit damit verbindet, dass man das große Ziel unberührt von äußeren Einflüssen verfolgen kann, wird früher oder später sein persönliches Diktat des Schmerzes erfahren. Freiheit hat eben nichts mit der Freiheit des Subjekts zu tun, sondern kann nur im Großen gedacht werden. Frei ist nur derjenige, der die Freiheit der anderen nicht einschränkt. Wer die Entscheidung fällt, sich nicht in den Sog der Dunkelheit ziehen zu lassen, sondern die Schwärze mit weißer Farbe zu übermalen, wird vor jeder neuen Zeichnung mit Reflexion beginnen. Hat die Jagd nach etwas Unerreichbarem höhere Bedeutsamkeit als der freudvolle Moment? Sollte der ständig fließende Strom der Zeit nicht von Zeit zu Zeit verlassen werden, um die aktuellen Koordinaten zu prüfen? Welche Hintergründe bleiben erkennbar, wenn der Vordergrund längst verschwommen ist?

Die Erstbegeher der Rocchetta Alta-Nordwand wählten zunächst die logische einfache Einstiegsrampe, um ein breites Band zu erreichen, das sie nach links verfolgten. Nach einer senkrechten Wandstufe befanden sie sich unter einer 60 Meter langen gelben Verschneidung, die scheinbar als Sackgasse unter einem hervorstehenden Dach endet. Trotz des steilen, brüchig anmutenden Felsens und der nicht offensichtlichen Fortsetzung im Bereich des Daches, wurde ein Versuch gewagt, über diesen Weg in den oberen Wandbereich vorzudringen. Obwohl der Ausgang letztendlich von Erfolg geprägt war, musste die Kletterei von großer Ungewissheit, von Momenten des Bangens geprägt gewesen sein, was den großen Mut der Erstbegeher beweist. Die Querung unterhalb des Daches von rechts nach links ist bezüglich ihrer Eindrücklichkeit kaum zu übertreffen. Die Füße stehen auf einem Band, das gerade die Breite einer Zigarettenschachtel misst. Oberkörper, Kopf und Arme werden durch den überhängenden Fels nach außen gedrängt. Unter dem Band saugt die gähnende Leere nach unten. Das Dach, das zwei Meter über der eigenen Position aus dem Fels hervor springt, scheint die Schwerkraft nur noch stärker auf den Körper zu drücken. Bei jeder Berührung bröckeln kleine Gesteinsstücke aus der Wand und fallen in einer scheinbar ewig andauernden Zeitperiode durch die Luft. Ganz unten am Wandfuß versinken sie im Meer aus Schutt.

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In der oberen Hälfte der Wand ändert sich der Charakter der Kletterei nicht. Die Route sucht immer nach dem Weg des geringsten Widerstands, durch Risse und Verschneidungen vorbei an den gelben Dächern. Nach zwei Drittel der originalen Routenlänge bedeutet für die meisten Kletterer der heutigen Zeit ein leicht erreichbares Band, über welches die flachere Ostseite des Berges erreicht werden kann, die Beendigung der Route. Der letzte Originalabschnitt entspricht nicht den Anforderungen der Kontrollgesellschaft, die ihre Säulen auf Gewissheit baut. Die Details werden ungenau, und damit bedrohlich. Wer auf seine Fragen keine Antworten bekommt, wird unsicher. Die Transformation des Geistes ermöglicht die Akzeptanz der Ungewissheit. Die nächsten Meter sind kalkulierbar, danach folgt das Unbekannte.

rocchettaAltaRoof

Der Mensch kann viel körperlichen Schmerz ertragen. In der Nordwand der Rocchetta Alta führte jeder unerwartete Kontakt meines linken Zeigefingers zu einem heftigen Stechen im entsprechenden Fingergelenk, was unweigerlich zu einem kalten Schweißausbruch des Körpers führte. Jedes Mal schießt der Gedanke des Hinterfragens in den Kopf. Wieder einmal unterdrückte der Zwang des Nicht-Verlassens festgesetzter Bahnen die Zeichen des eigenen Körpers. Nachdem der Schmerz auf ein erträgliches Niveau herabgesunken ist, wird der Weg fortgesetzt, wohlwissend, dass die Intensität der Stiche bei jedem weiteren Aufprall in einem erbarmungslosen Crescendo wachsen wird. So wie ein Baum auch dem tausendsten Windstoß standhalten wird, erträgt der Mensch auch den nächsten Schmerz, ohne zu brechen. Das Unerträgliche war nicht das physische Empfinden, sondern die Ungewissheit der Zukunft, das langsame Verschwinden der vorgezeichneten Wege und das Gefühl, sich nicht mehr an vertrauten Geländern festhalten zu können, die einst so stabil wirkten. Das Akzeptieren der Ungewissheit ist ein qualvoller Prozess, der nur langsam erträglicher wird.

Die Zeichen des Schicksals oktroyierten bereits die Neuausrichtung der Grundsätze. Ziele verlieren an Bedeutung, wenn ihre Verfolgung zu einer krampfhaften Negation der sich ändernden Umstände führt. Das strikte Festhalten an vorgezeichneten Linien verhindert die Ausbreitung eines vielfältigen Geistes. Die Zeit war noch nicht reif, um die Zeichen zu erkennen. Die Erfahrungen dieser Verletzung besaßen nicht die Wirkmacht, um an den Pfeilern der eigenen Philosophie zu rütteln. Es ist leichter, mit der gleichen Richtung durch die Dunkelheit zu irren, als abzubrechen und nach klareren Wegen zu suchen. Vier Monate später kehrten die Zeichen zurück. Die Intensität der CRPS-Erfahrungen führte zu jenen Erschütterungen, die in der Vergangenheit so lange ausgeblieben sind. Die Transformation der Ausrichtung, weg von der ewigen Suche eines großen Ziels, das aufgrund der immanenten Notwendigkeit zur Verschiebung und Vergrößerung nie endgültig gefunden werden kann, hin zu der Fokussierung auf den greifbaren Moment, wurde eingeleitet.

Nach der Tour auf die Rocchetta Alta erholte sich das Fingergelenk innerhalb einiger Wochen. Die Phase der Ungewissheit nach dem Skisturz dauerte 10 Wochen, bis die vorgezogene Entfernung der Metallimplantate eine deutliche Reduktion der Schmerzen brachte. Geschwollene Bereiche der Hand, Steifigkeit in den Gelenken, verstärkte Behaarung, deutliche Verfärbung der Haut und Kraftlosigkeit blieben zurück. Nach weiteren 6 Wochen gab es bei Alltagstätigkeiten keine großen Einschränkungen mehr, eine Rückkehr an den Fels war trotzdem noch nicht absehbar. Vor allem die Fingergelenke verweigern unter Belastung ihren Dienst. Das ist nur eine Randnotiz. Der Fokus liegt auf der Gegenwart. Welche Richtung kann ich jetzt wählen, um Erfüllung zu erfahren? Die Erfüllung liegt nicht in der Zukunft, sie liegt direkt vor uns. Nicht das große Endziel determiniert die Linien, die wir auf unser leeres Blatt zeichnen, sondern der Jetzt-Moment, der uns Möglichkeiten bietet und instinktiv entscheiden lässt. Limitierend ist nur Zeit und Kraft. Kostbare Ressourcen, die für den großen Plan geopfert wurden, können eingespart und für den Augenblick genutzt werden. Die Zwischenräume bieten Platz für Farbe, die wir jederzeit nach Belieben füllen können. Vorbei ist die Zeit der Unsicherheit, des Zögerns, der Entwerfung und Verwerfung und der ständigen inneren Suche.